Denn sie wissen nicht, was sie tun

Intuition
Chefsache Intuition

Ethik ist eine Frage des Bewusstseins. Peter Simon Fenkart zeigt, wie die eigene Intuition ein natürliches und ethisches Empfinden prägt.

Ethik kommt von innen. Sie erwächst aus einem natürlichen Empfinden. Würden wir frei von Traumata und seelischen Schädigungen aufwachsen, wäre ein wertschätzender, nachhaltiger und förderlicher Umgang miteinander selbstverständlich. Dahin können wir zurückkehren – wenn wir mehr auf unseren inneren Kompass vertrauen, wenn wir uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen und wieder lernen, die Stimme der Intuition in uns wahrzunehmen.

Apropos Stimme: Als Kind stimmt noch alles mit uns, alles ist „stimmig“. Das ethische Bewusstsein ist stark ausgeprägt und in alle Lebensbereiche eingebunden. Das zeigt sich in der Abneigung, Lebewesen zu töten oder auch nur zu verletzen. Selbst die hässliche und gefürchtete Spinne darf nicht „totgemacht“ werden, sondern ist von den Eltern behutsam einzusammeln und ins Exil zu eskortieren. In späteren Lebensjahren macht sich gelegentlich ein Gewissen bemerkbar und zeigt, dass etwas dem natürlichen Ethikempfinden widerspricht. Doch diese innere Stimme wird zunehmend ignoriert – oft, bis sie ganz aus der Wahrnehmung schwindet.

Das beginnt mit der Erziehung und Ausbildung. Erziehung setzt notgedrungen auf Konditionierung, also auf Zuckerbrot und Peitsche. Ist man diesem Druck ausgesetzt, so aktiviert das die Überlebensstrategie der Anpassung. Dabei wird das natürliche Empfinden allmählich verdrängt durch ein Nützlichkeitsempfinden. Situationen werden nicht mehr erlebt, sondern bewertet, immer im Hinblick auf drohende Nachteile (Strafe) oder nicht zu versäumende Gelegenheiten (Belohnungen). Gut ist, was nützt und funktioniert, wobei letzteres früher oder später bedeutet, nicht zu kurz zu kommen und gleichzeitig nicht erwischt oder belangt zu werden. Tschüss Ethik!Schon im Kindergarten erlebt man eindrucksvoll, wie andere Kinder sich gewaltsam durchsetzen und damit oft erfolgreich sind. Das erhöht den Druck zur Nachahmung und somit zur Notwendigkeit, die lästige innere Stimme zu überhören. Im weiteren Leben verschärft sich der innere Konflikt und führt zu Verdruss, weil das Empfinden, dass etwas nicht stimmt, unterschwellig weiter an der Substanz des Seins nagt. Der Disteln köpfende Junge trägt in seinem jungen Leben bereits einen so schweren Rucksack an Frustrationen mit sich, dass man aus ethischer Sicht sagen kann: „Das Kind ist in den Brunnen gefallen.“ Und daraus kann es nur schwer entkommen, denn unser Ausbildungssystem setzt auf eine einseitige Förderung der Ratio, also des Verstandes. Andere Fähigkeiten, die unser Menschsein maßgeblicher prägen, werden stark vernachlässigt oder allenfalls nachrangig gepflegt. Es steht nicht auf dem Lehrplan, wie man mit sich selbst, seinen Gefühlen und Regungen auskommt, geschweige denn mit anderen Menschen. Dabei wäre das elementar, doch bereits die Elementarschule (Grundschule) beschränkt sich überwiegend darauf, die Eingliederung in ein Berufsleben vorzubereiten. Mit einer derart hohlen Hülse ausgestattet, erfolgt die Konzentration auf Hüllen, also auf Äußeres und Äußerlichkeiten. Hauptsache, das Obst sieht schön poliert aus; der Geschmack, also das sinnlich-emotionale Erleben, gilt als zweitrangig.

Zum Nützlichkeitskonzept gesellt sich bald auch Zielorientierung. Zwischen den Zielen entsteht dann eine Leere, eine Phase des Wartens, alles dauert. Jeder, der schon mal auf die Uhr geschaut hat, um zu sehen, wann endlich Feierabend ist, hat das erlebt. Das Ziel, in diesem Fall die Freizeit, soll für die Unannehmlichkeiten in der Zeit davor entschädigen. Übergestülpt wird noch das Erfolgskonzept, demzufolge derjenige als erfolgreich gilt, der möglichst eindrucksvolle Ziele erreicht, die oft nicht mal die eigenen sind, sondern aufgeprägt, konsumiert aus dem Schnäppchenladen aufgedrängter Lebensmodelle. Der Esel läuft, oft lebenslang, einer vorgebundenen Karotte hinterher. Und wir wundern uns über Sinnverlust und Lebensverdruss, zunehmende Unzufriedenheit und schwelende bis hochkochende Wut in der Gesellschaft?

Ignoranz und Unachtsamkeit prägen bedeutende Teile unserer Gesellschaft. Nützlichkeitsfixierung und dogmatische Zielfokussierung führen zu einer dramatischen Einengung des Bewusstseins. Wahrnehmung bedeutet auch wahr-nehmen. Welche Reize in unser Bewusstsein dringen, hängt von den erworbenen Wahrnehmungsfiltern ab. Sind diese allzu ziel- und nutzenorientiert ausgerichtet, zieht das Leben vorbei. Den Tag zu pflücken, mit all seinem Potenzial, den Chancen und Möglichkeiten, wird versäumt. Denn wir müssen Leistung bringen, was bedeutet: schnell und viel. Der Körper nimmt zu, das Bewusstsein für Wichtiges ab. Plötzlich sind die Kinder groß und weg, die Rente da, noch ein wenig Zeitvertreib, dann Zapfenstreich und endgelagert. Ein Leben, erledigt und abgeheftet.

Nur Wenige, wie vermutlich die Leser dieser Zeitschrift, schaffen es, diese Bürde zu lockern oder gar ganz abzulegen. Sie haben ein Bewusstsein entwickelt, das hinschaut und wahrnimmt. Sie interessieren und kümmern sich. Die Mehrheit geht mehr oder weniger unbewusst durchs Leben. Abfall fällt achtlos zu Boden, Mitmenschen werden bedenkenlos behindert, geschädigt, verleumdet und angefeindet – nicht nur in den Social Media. Dies erfolgt alles unbewusst: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Streitbereitschaft und Aggressivität nehmen spürbar zu; der Druck im Kessel der Gesellschaft steigt.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt etwas tun – und mit uns selbst anfangen. Wir müssen herausfinden, was wir wirklich wollen, unabhängig von den äußerlich aufgeprägten Wünschen. Wir müssen lernen, mit unseren Gefühlen umzugehen, statt sie wegzudrücken. Nur so können wir uns aus der Eskalation nehmen und dazu beitragen, den Druck im Kessel zu senken. Wie wir das schaffen? Alles eine Frage des Bewusstseins.

Im Allgemeinen ist mit „unserem Bewusstsein“ das Wachbewusstsein gemeint, weil wir es meist im Wachzustand nutzen, mit dem sich die meisten Menschen identifizieren. Doch da gibt es noch so unglaublich viel mehr. Ein weiteres, unabhängiges Bewusstsein erleben wir im Traum, wenn das Wachbewusstsein schläft. Dass das Traumbewusstsein sich vom Wachbewusstsein unterscheidet, können wir alle anschaulich nachvollziehen, wenn wir aus einem Traum erwachen. Selbst das intensivste Traumerleben verflüchtigt sich nach kurzer Zeit – es sei denn, wir rekapitulieren es beim Wachwerden, bevor der Zwischenspeicher des Episodengedächtnisses überschrieben ist.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Überbewusstsein, unser höheres Selbst. Es schläft nie und stellt so etwas wie einen Serviceprozess dar. Es verwaltet unter anderem unsere Werte und wahrhaftigen Ziele. Wir spüren dieses Bewusstsein, wenn uns das Gewissen plagt. Die Stimme dieses höheren Selbst ist die Intuition. Gelingt es uns, diese Verbindung wieder bewusst herzustellen, begleitet uns dieser Informationskanal wegweisend und zielführend durchs Leben. Der Verstand übernimmt dann wieder die ursprünglich zugedachte Rolle: das Empfundene in der materiellen Welt umzusetzen.

Durch eine entwickelte Intuition greifen wir auf einen gigantischen Schatz an Informationen zurück, über den unser Unbewusstes verfügt und der dem Erinnern nicht zugänglich ist. Wir beurteilen, entscheiden und handeln dann aus einem natürlichen ethischen Empfinden, nachhaltig und sinnstiftend, und sind ganz Mensch – im besten Sinne. Und sie wissen, was sie tun.