Unternehmer müssen ihr Verständnis von Führung überdenken“

Im Gespräch: Gabriele Maier-Güttler

Gabriele Maier-Güttler, Coach, Organisationsberaterin, Personalentwicklerin und Geschäftsführende Gesellschafterin der Unternehmensberatung SandkornKOMM, hat mit „Wirtschaft & Ethik“ über die Anforderungen der „Arbeitswelt 4.0“ gesprochen. Die Expertin plädiert für einen verantwortungsvollen Umgang der Unternehmer mit ihren Mitarbeitern und ein ethisch-sinnvolles Wirtschaften, das alle weiterbringt.

Wirtschaft & Ethik: Frau Maier-Güttler, aktuell ist überall die Rede von der „Neuen Welt der Arbeit“ oder der „Arbeitswelt 4.0.“ Was genau ist damit gemeint?
Gabriele Maier-Güttler: Die Arbeitswelt hat sich seit Beginn der Industrialisierung stark verändert und dabei immer neue Entwicklungsstufen erreicht. Die letzte Phase, nennen wir sie „Arbeitswelt 3.0“, ist das, was wir in den vergangenen rund 40 Jahren erlebt haben. In dieser Entwicklungsstufe stand die Automatisierung im Vordergrund und es ging darum, Prozesse zu optimieren – sie besser, perfekter, schneller und effektiver zu machen. Im Schwerpunkt fand diese Prozessoptimierung bislang in der Produktion statt. Die Ergebnisse sind monetär messbar. Jetzt sind wir mitten drin im nächsten epochalen Wandel, in dem es um die Vernetzung auf der Grundlage digitaler Technologien geht. Wie alle Entwicklungsstufen davor wird auch diese nur gelingen, wenn ein weitreichender gesellschaftlicher Umbruch damit einhergeht.
Wie stellt sich dieser Wandel der Arbeitswelt aktuell dar?

Im Moment beobachten wir einen enormen, sehr schnellen Wandel, der insbesondere von der fortschreitenden Digitalisierung getrieben wird. Standardisierte Tätigkeiten werden zunehmend automatisiert – nicht mehr nur in der Produktion, sondern jetzt auch in der Verwaltung. Alle Berufe, die sich mit standardisierten Abläufen befassen, werden in Zukunft zu einem sehr hohen Anteil wegfallen, weil Softwareprogramme diese Arbeiten sehr viel schneller und effektiver erledigen können. Für einen Buchhalter etwa wird es in fünf bis zehn Jahren keine Arbeit mehr geben. Schon heute stellen derart automatisierte Prozesse beispielsweise die Banken vor große Herausforderungen: Die Menschen erledigen ihre Bankgeschäfte online und müssen im Grunde nur noch dann zur Bank, wenn sie einen Kredit benötigen – wobei selbst das mittlerweile auch online geht. Ein großflächiges Filialnetz ist zukünftig also nicht mehr nötig.

Führt die Digitalisierung in der Arbeitswelt zu einem Konflikt zwischen Tradition und Moderne?

Absolut. Es handelt sich tatsächlich um einen epochalen Wandel, auf den man reagieren muss, um nicht abgehängt zu werden. Natürlich machen derartige Veränderungen vielen Menschen Angst. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass Veränderung gut tut und absolut notwendig ist. Ich erlebe derzeit einen regelrechten Schub und eine hohe Bereitschaft für Veränderungsprozesse in Unternehmen und Organisationen, getriggert durch neue digitale Möglichkeiten, die es davor nicht gegeben hat. Die Entwicklung von Organisationen schien bislang eher ein „nice to have“. Heute ist deutlich, dass sie dringend notwendig ist. Die Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, der die Veränderungen sowohl in Unternehmen als auch für die Menschen zu einem positiven Ergebnis führt.

Unternehmen wollen in der Regel effizienter, schneller, besser werden. Bleibt der Mensch dabei auf der Strecke?

Ob der Mensch auf der Strecke bleibt hängt davon ab, ob wir in der Lage sind, uns mit den neuen Möglichkeiten zu entwickeln. Es wird auf jeden Fall anders und es gibt eine große Notwendigkeit, den Wandel aktiv zu gestalten. Experten prognostizieren, dass alles, was automatisiert werden kann, auch automatisiert wird. Das birgt Risiken, bietet aber auch große Chancen. Durch die moderne Technik wird Arbeit unabhängiger von einem Ort und kann dort erledigt werden, wo ein Internetanschluss vorhanden ist. Ich muss mich dazu nicht morgens und abends in den Stau begeben. Das wiederum bedeutet, dass Unternehmer ihre Organisation und nicht zuletzt auch ihr Verständnis von Führung überdenken müssen. Menschen werden zu einem Team, indem sie gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten, und nicht dadurch, dass sie tagsüber im gleichen Gebäude sitzen. Trotzdem braucht es regelmäßige persönliche Kontakte und Austausch. Dies sinnvoll zu organisieren ist die große Herausforderung für Teams, Führungskräfte und die gesamte Organisation.

Die Veränderung der Arbeitswelt führt also zu einem gänzlich neuen Verständnis von Arbeit und einem kulturellen Wandel der gesamten Organisation. Muss ein Unternehmer zukünftig mehr Verantwortung für die Gesellschaft und jeden einzelnen Mitarbeiter übernehmen?

Wir haben jetzt eine große Chance, das zu tun. Es gibt in der neuen Arbeitswelt durchaus Abläufe, die den Einzelnen mehr unter Druck setzen, als dies bisher der Fall war. Die Frage lautet, wie die Unternehmen, die Unternehmer und ihre Angestellten damit umgehen. Wie ist die Kultur im Unternehmen und wie soll sie in Zukunft sein? Das sind Fragen, die unbedingt beantwortet werden müssen. Der kulturelle Wandel der Organisation birgt Chancen, die man sehen und ergreifen muss. Es nützt nichts, sich als Opfer der Digitalisierung zu sehen – das bringt niemanden voran. Meine tiefe Überzeugung lautet, dass sich Organisationen anders in ihrer Struktur aufstellen und in Zukunft nach anderen Grundsätzen wirtschaften müssen. Hier geht es auch darum, zu klären, welchen Beitrag jeder einzelne und jedes Unternehmen in der Gesellschaft leisten kann. Die Frage ist doch, wie unsere Aufgabe gesamtgesellschaftlich aussieht. Kann es unser Auftrag sein, immer mehr Dinge zu produzieren? In den Industrienationen ist doch alles vorhanden, was wir brauchen – unsere Häuser sind voll. Somit müssen wir unseren Blick dringend weiten und uns fragen, welche Verantwortung wir für die Welt insgesamt haben. Das Gebot der Stunde sollte ein ethisch-sinnvolles, verantwortungsvolles Wirtschaften sein, das alle weiterbringt.

Können sie beispielhaft Unternehmen nennen, die die von Ihnen beschriebene Strategie bereits erfolgreich umsetzen?

Es gibt inzwischen kleine und große Unternehmen, die daran arbeiten. Ein gutes Beispiel ist der Springer Verlag, der sich in den vergangenen zwei bis drei Jahren massiv bewegt hat. Natürlich fallen mir an dieser Stelle Konzerne wie Google, Facebook, Apple usw. ein. Aber auch Unternehmen wie SAP, Bosch oder Daimler, die Telekom, die Deutsche Bahn, Otto und andere arbeiten derzeit daran, die Arbeitswelt 4.0 zu gestalten. Große Konzerne stehen dabei immer vor der Herausforderung, einen riesigen Tanker lenken und gegebenenfalls in eine andere Richtung bewegen zu müssen. Die kleinen Unternehmen haben den Vorteil, dass sie sich flexibel und zügig auf den Weg machen können, Neues ausprobieren und rasch nachsteuern können. Viele mittelständische Unternehmen sind da schon auf einem sehr guten Weg. Es werden neue Formen der Zusammenarbeit und Führung entwickelt, Räume neu gestaltet, starre Regeln durch Grundprinzipien ersetzt, ein höherer Grad an Selbstorganisation für die Teams ermöglicht und vieles mehr.

Was muss der Arbeitgeber, der morgen erfolgreich sein will, heute schon ändern?

Es gibt viele Punkte, die schon heute in Bewegung gebracht werden können. Wichtig ist, zunächst sorgfältig auf das eigene Unternehmen zu schauen anstatt überstürzt irgendwelche neuen Methoden einzuführen. „Agil“ heißt ja zur Zeit das Zauberwort – und das bedeutet, beweglich und anpassungsfähig und darin schnell zu sein. Entwicklung und ständiges Ausrichten auf den Kundennutzen geschieht schrittweise und mit schnellen Feedbackschlaufen. Ich habe einen Check entwickelt, den ich mit Unternehmen gemeinsam durchgehe. Es geht darum zu klären, auf welchem Stand das Unternehmen ist, ob die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung bereits genutzt werden, wie die Organisation aufgebaut ist, welche Arbeitsmodelle es gibt, wie der Begriff Führung definiert ist und gelebt wird und wie es um die Firmenkultur bestellt ist. Arbeiten unterschiedliche Generationen und Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammen, und wenn ja, welche? Wie werden neue Mitarbeiter geworben, und erscheint das Unternehmen als Arbeitgeber nach außen hin attraktiv? Es gibt sehr, sehr viele Aspekte, die man berücksichtigen kann und auch berücksichtigen sollte, bevor man Bereiche benennen kann, die sich in Bewegung bringen lassen. Ziel des Checks ist es, eine klare Vorstellung davon zu bekommen, wie weit das Unternehmen auf dem Weg zur Arbeitswelt 4.0 bereits gekommen ist. Erst dann kann der Unternehmer entscheiden, welche Schritte im Weiteren angegangen werden sollen. Ich plädiere dafür, den Mitarbeitern mehr Eigenständigkeit und Verantwortung zu geben, denn dann bringen Mitarbeiter ihr Potential auch lieber ein. Die Methode von Anweisung und Kontrolle wird den komplexen Zusammenhängen heute nicht mehr gerecht. Es kommt darauf an, Teams einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem sie zur Selbstorganisation ermutigt werden. Insgesamt muss sich eine Unternehmensleitung darüber Gedanken machen, wie sie führen will. Ziel ist ein Führen und Steuern über Prinzipien, die die Grundrichtung vorgeben und den Mitarbeitern eine große Freiheit lassen, innerhalb dieser formulierten Prinzipien zu agieren. So entsteht Energie und Motivation, und nur das kommt beim Kunden an.

Die „Neue Arbeitswelt“ schafft also Freiräume, baut Hierarchien und Kontrollen ab. Haben wir in Zukunft dann überhaupt noch einen Chef?

Der Unternehmer hat in der Zukunft eine große Aufgabe: Er muss es dem Unternehmen ermöglichen, dass es sich überhaupt auf den Weg machen kann in die neue Arbeitswelt. Seine Aufgabe ist es, Raum zu schaffen, sodass dieser Weg beschritten werden kann. In der Verantwortung des Unternehmers liegt es, den Rahmen zu definieren und ihn zu halten. Auch in Zukunft ist also noch ein Chef gefragt, der auf das große Ganze schaut, der eine Mission verkörpert und dem klar ist, wozu es das Unternehmen gibt. Aus diesem Wissen heraus steuert er das Unternehmen und achtet darauf, dass es nicht in eine ganz falsche Richtung geht. Ich denke, die Definition des Chefs oder der Führungskraft und ebenso die Aufgaben von Führung werden vielseitiger werden und nicht mehr der bisherigen Tradition entsprechen, in der ein Vorgesetzter anweist und kontrolliert.

Studien belegen, dass ein moderner Führungsstil, der den Mitarbeitern mehr Freiheiten lässt und Eigenverantwortung überträgt, nicht nur die Zufriedenheit der Angestellten, sondern auch die Produktivität und die Innovationskraft des Unternehmens steigert. Woran liegt das?

Es passiert deshalb etwas, weil Mitarbeiter sich mit ihren Ideen besser in das Unternehmen einbringen können und deutlich mehr gefordert sind, nachzudenken anstatt nach vorgegebenen Regeln zu funktionieren. Letztlich entsteht etwas, das wir intrinsische Motivation nennen: Der Mitarbeiter tut etwas aus Überzeugung – weil er es für richtig hält und nicht, weil ihm jemand sagt, dass er es zu tun hat, oder nur weil er dafür Geld bekommt. Das bedeutet Energie und Motivation in der eigenen Arbeit. Die große Kluft zwischen Arbeit einerseits und dem Leben nach Feierabend andererseits wird sich für viele schließen, wenn es gelingt, dass sich die Mitarbeiter wohlfühlen, weil sie – in ihrem Rahmen – Verantwortung tragen, anerkannt, respektiert und in ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. Trotzdem wird dies nicht überall so sein – nicht alle Menschen sind gleich und nicht jeder will das.

Sprechen wir hier eigentlich von einer weltweiten Entwicklung?

Ja, weil sich die Technik weltweit gleichzeitig entwickelt und die Digitalisierung global stattfindet. Natürlich sind die jeweiligen Entwicklungsgeschwindigkeiten unterschiedlich. Allerdings ist es nicht mehr so, dass wir nur in Europa, den USA oder vielleicht noch in Japan schnell sind und die anderen Beteiligen am globalen System hinterherhinken. Es gibt heute auch viel mehr Möglichkeiten für Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika wo die sogenannten „Clickworker“ über das Internet Zugang zu den globalen Märkten haben. In diesen Ländern gibt es einen großen Anteil jüngerer Bevölkerung, der nach Entwicklungschancen sucht und jetzt die Möglichkeit hat, zu partizipieren. In solchen Ländern werden inzwischen Start-ups von gut ausgebildeten jungen Menschen gegründet, die zur technischen und sozialen Entwicklung ihres Landes beitragen. Wenn es gelingt, diese Möglichkeiten zu nutzen, bedeutet Digitalisierung auch eine größere Gerechtigkeit weltweit.

Haben Sie konkrete Tipps für Unternehmer und/oder Manager, die erfolgreich in die Arbeitswelt 4.0 starten wollen?

Erstens sollten Unternehmer grundsätzlich bereit sein, sich mit den genannten Themen zu beschäftigen, sich darauf einzulassen. Dann gilt es in einem ersten Schritt, sich zu informieren – in Medien, Fachliteratur oder bei Veranstaltungen. Zweitens sollte man sich intensiv das eigene Unternehmen anschauen, bevor man in irgendeiner Art und Weise loslegt. Blinder Aktionismus ist an dieser Stelle absolut fehl am Platz und kann schnell zum Scheitern auf allen Ebenen führen. Einen guten Leitfaden, der zeigt, wo das Unternehmen steht und wo Entwicklungspotential liegt um erfolgreich in der Arbeitswelt der Zukunft Fuß zu fassen, bietet der Check, den ich eigens für diesen Zweck entwickelt habe. Wenn deutlich ist, wo angesetzt werden kann, sollten Unternehmer ganz praktisch loslegen – und Schritt für Schritt neue Praxis entwickeln. Ein Prinzip der sogenannten „New World of Work“ ist es, über die Praxis zu lernen und dabei beständig in kleinen Schritten zu optimieren. Unternehmen wie Google, Facebook, Apple, Tesla etc. machen uns das vor: Im Entwicklungsstadium von 70 oder 80 Prozent wird ein Produkt auf den Markt gebracht und an der Praxis weiter optimiert. Das bringt einen wesentlichen Vorteil, nämlich Geschwindigkeit und Erfahrung. Wer mühsam bis auf 100 Prozent entwickelt und erst dann mit seinem Produkt auf den Markt geht, ist schon von Anfang an im Nachteil, weil er zu langsam agiert.

Vielen Dank für das sehr spannende Gespräch zu einem äußerst interessantem Thema – ein Thema, das die Unternehmen ganz sicher noch eine große Zeitspanne lang begleiten wird.

Das Gespräch führte Jürgen Linsenmaier

 

Gabriele Maier-Güttler - Führung
Gabriele Maier-Güttler | SandkornKomm

Gabriele Maier-Güttler, Coach, Organisationsberaterin, Personalentwicklerin und Geschäftsführende Gesellschafterin der Unternehmensberatung SandkornKOMM, berät Unternehmen und Organisationen auf dem Weg in die Zukunft der Arbeit

„Als Impulsgeberin unterstütze ich Unternehmen darin, Entwicklungswege zu wagen – als Pragmatikerin begleite ich den Wandel auf dem Weg der Umsetzung“, so Maier-Güttler über ihre Arbeit.

www.sandkornkomm.de